Interview mit Prof. Dr. Alessandro Aiuti
"Wir wollen das Spektrum der Krankheiten erweitern, die wir mit Gentherapien behandeln können"
Prof. Dr. Alessandro Aiuti vom San Raffaele Telethon Institut für Gentherapie (SR-Tiget) in Mailand wurde für seine bedeutenden wissenschaftlichen Beiträge zur Entwicklung von Gentherapien für seltene Krankheiten mit dem Else Kröner Fresenius Preis für Medizinische Forschung 2020 ausgezeichnet. Einen herausragenden Erfolg erzielte er mit der Entwicklung der Gentherapie für ADA-SCID (Adenosine-Deaminase-Severe Combined Immuno Deficiency). Wir sprachen mit Alessandro Aiuti über seine Arbeit, die sich auch mit anderen seltenen Krankheiten befasst.
Aufbauend auf der Therapie für ADA-SCID haben wir bisher vier weitere Krankheiten am SR-Tiget behandelt. Dazu gehören andere Immunerkrankungen wie das Wiskott-Aldrich-Syndrom, eine Krankheit, die Jungen betrifft und zum Beispiel Blutungen und eine hohe Anfälligkeit für Infektionen verursacht. Wir haben auch Patientinnen und Patienten mit Beta-Thalassämie behandelt. Diese Erkrankung verursacht eine Anämie. Und dann gibt es zwei Stoffwechselkrankheiten, die schnelle Degenerationsprozesse auslösen: Die metachromatische Leukodystrophie ist eine sehr schwere Erkrankung, bei der sich toxische Substanzen im Gehirn ansammeln. Die Mukopolysaccharidose Typ 1 ist eine seltene lysosomale Speichererkrankung, die hauptsächlich das Gehirn und das Skelett betrifft und für die wir vor zwei Jahren eine klinische Studie begonnen haben. Unsere gentherapeutischen Ansätze haben sich bei den meisten der bisher behandelten Patientinnen und Patienten als wirksam und sicher erwiesen. Diese Daten sind also wirklich ermutigend und wir gehen nun auch andere Krankheiten an, die wir mit gentherapeutischen Ansätzen behandeln wollen, wie z.B. andere Störungen des Immunsystems, Krankheiten des Blutes und Stoffwechselerkrankungen.
Ich denke, es gibt da mehrere Aspekte. Ich persönlich habe immer davon geträumt, Forscher zu werden. Die Neugierde, neue Dinge zu erforschen, hat mich immer angetrieben. Neben dieser grundlegenden Leidenschaft und diesem Engagement komme ich jeden Tag zur Arbeit und versuche, Probleme zu lösen und Lösungen für die Patientinnen und Patienten zu finden. Wir geben uns nicht zufrieden, wenn wir etwas erreicht haben. Wir wissen, dass hinter jedem Kind, das erfolgreich geheilt wurde, auch viele andere stehen, die noch eine wirksame Heilung benötigen. Diese Erfolge können jedoch nicht von einer einzigen Person erreicht werden, sondern erfordern immer Teamarbeit. Viele Individuen tragen dazu bei: Von Forschenden über Technische Assistentinnen und Assistenten, Ärztinnen und Ärzte, Krankenpflegerinnen und -pfleger bis hin zum gesamten Hilfspersonal. Das ganze SR-Tiget-Team hat unter der Leitung der Direktoren des Prof. Bordignon, Prof. Roncarolo und Prof. Naldini in den letzten 20 Jahren hart gearbeitet, um die Forschung voranzubringen. Es ist also wirklich den Anstrengungen des ganzen Teams zu verdanken, dass wir diese außergewöhnlichen Ergebnisse erzielen konnten. Als die Behandlungen bei den Patientinnen und Patienten tatsächlich erfolgreich angewendet werden konnten, war das ein schönes Gefühl und der Lohn dafür, dass wir so lange am Ball geblieben sind. Nach so vielen Jahren harter Arbeit zu erkennen, dass es etwas gibt, das jetzt zu einem besseren Leben der Kinder beiträgt und zu einer lebensrettenden Behandlung werden kann, war für uns großartig.
Es dauert viele Jahre, mindestens 10 bis 15 Jahre, um so komplexe Behandlungen wie Gentherapien zu entwickeln. Viele Dinge müssen zusammenkommen. Mit dem großen Ziel, die Blutstammzellen zu reparieren, mussten wir zunächst mit dem Bau eines viralen Vektors beginnen, der das gesunde Gen in die Zelle einbringt. Im Rahmen Vektorentwicklung muss man auch erst einmal in präklinischen Studien in-vitro Assays entwickeln, um untersuchen zu können, ob der Vektor und der Gentransfer funktionieren. Erst wenn dieser präklinische Teil erfolgreich abgeschlossen ist, kann man überhaupt an die Behandlung von Patientinnen und Patienten denken und eine klinische Studie zu planen. Das ist ein sehr langer Weg, aber es ist wichtig, die Sicherheit und Wirksamkeit einer neuen Behandlung zu gewährleisten.
Es ist nicht einfach, einen Behandlungsansatz von der Grundlagenforschung bis hin zur erfolgreichen klinischen Anwendung zu entwickeln. Man muss vorausdenken und etwas entwickeln, das für die klinische Anwendung geeignet ist. Nicht alle Ideen oder Ansätze eignen sich dafür, weil sie sich zum Beispiel als nicht sicher erweisen. Man kann viel bei der Untersuchung von Patientinnen und Patienten lernen z.B. indem man die Zellen der Erkrankten gründlich untersucht, indem man versucht, von anderen Therapien zu lernen und indem man Erfahrungen und Erfolge anderer Behandlungen übernimmt. Wir haben zum Beispiel viel von der Transplantation hämatopoetischer Stammzellen von gesunden Spenderinnen und Spendern gelernt, die schon seit 50 Jahren durchgeführt wird. Hier gab es wichtige Erkenntnisse, die wir in unser Forschungsfeld einbringen mussten. Ich denke, es ist eine Mischung aus Forschung, Entwicklungsarbeit und der Beobachtung aus der Klinik. Übrigens sind dafür Clinician Scientists, also forschende Ärztinnen und Ärzte, sehr wichtig. Sie sind es, die das Wissen aus der Forschung einbringen, aber auch das Fachwissen aus ihrer Tätigkeit als Klinikerin und Kliniker.
Unser Ziel ist es, neue und sichere Ansätze zur Behandlung genetischer Krankheiten mit Hilfe hämatopoetischer Stammzellen zu entwickeln. Wir wollen das Spektrum der Krankheiten, die wir durch Gentherapie behandeln können, erweitern. Das Preisgeld wird für drei verschiedene Forschungsziele verwendet. Innerhalb des ersten Ziels werden wir untersuchen, wie sich die Blutstammzellen nach der Gentherapie im Körper der Patientinnen und Patienten verhalten. Wir wollen die veränderten Zellen verfolgen, um zu verstehen, ob sich diese Stammzellen nach vielen Jahren der Gentherapie normal verhalten. Wir untersuchen dafür, wie viele von ihnen funktionieren und wie viele von ihnen noch aktiv sind. In einem zweiten Ziel werden wir andere Krankheiten untersuchen, die durch Defekte in Stoffwechselenzymen verursacht werden, wie z.B. die Mukopolysaccharidose. In diesem Fall dienen die hämatopoetischen Stammzellen dazu, therapeutische Enzyme in verschiedene Gewebe zu transportieren, zum Beispiel in die Knochen oder in das Gehirn. An diesen Stellen können die Stammzellen lokal hohe Mengen des therapeutischen Enzyms produzieren, um auch die Fehlfunktion von Organen zu korrigieren. Die dritte Forschungslinie wird Gentherapie- und Geneditierungsansätze für autoinflammatorische Erkrankungen untersuchen. Bei diesen Erkrankungen ist das Immunsystem aufgrund von genetischen Mutationen ständig aktiv. Wir wollen also gezielt in die Regulation der angeborenen Immunantwort eingreifen und denken, dass Gen-Editing und Gentherapie geeignete Ansätze dafür sind.
Neu entwickelte Gentherapien gegen Erbkrankheiten
Alessandro Aiuti hat mit seinen Arbeiten wesentlich dazu beigetragen, dass Patientinnen und Patienten mit seltenen, vererbbaren Immundefekten und Stoffwechselerkrankungen erfolgreich mit neuen Gentherapien behandelt werden können. Er ist einer der Hauptverantwortlichen für die Entwicklung von erfolgreichen gentherapeutischen Ansätzen für Erkrankungen wie das Wiskott-Aldrich Syndrom oder die Metachromatische Leukodystrophie. Einen weithin beachteten Erfolg erzielte er als Schlüsselfigur bei der Entwicklung der Gentherapie für ADA-SCID (Adenosine-Deaminase-Severe Combined Immuno Deficiency). Diese Gentherapie und das Erreichen ihrer Marktzulassung in Europa gilt weltweit als eines der wichtigsten Ergebnisse der Entwicklung von Gentherapien. "Eine international führende Persönlichkeit, die weiterhin Gentherapie-Geschichte schreiben wird“, so die Jury in ihrer Begründung.
Erfolgreich gegen ADA-SCID
Bei der seltenen Immunkrankheit ADA-SCID, die Kinder betrifft und in Europa jährlich etwa 15-mal auftritt, sorgt ein Defekt des ADA-Gens im Erbgut für eine Störung der Lymphocyten-Entwicklung. Der Körper der jungen Patientinnen und Patienten ist dadurch wehrlos gegen Infektionen. Der Standard für die Therapie ist eine Knochenmarktransplantation. Nicht für jeden Erkrankten steht jedoch ein passender Spender zur Verfügung.
Mit der Gentherapie aus Mailand gibt es für diese Kinder inzwischen eine Alternative. Nach erfolgreichen klinischen Studien wurde die für ADA-SCID-Patientinnen und Patienten entwickelte Gentherapie in Europa als Arzneimittel zugelassen.
Die Therapie basiert auf patienteneigenen lebenden Zellen, deren DNA modifiziert wird. Bei der Behandlung werden den Betroffenen bestimmte Blutstammzellen (CD34+) entnommen und ihre DNA modifiziert. Dafür werden die Zellen außerhalb des Körpers mithilfe eines viralen Vektors behandelt. Dieser bringt die korrekte Version des Gens für das ADA-Enzym in das Erbgut der entnommenen Zellen ein. Die genetisch veränderten Zellen werden per Infusion zurück in den Blutkreislauf der Erkrankten gebracht. Ein Teil der modifizierten Zellen siedelt sich dann wieder im Knochenmark an. Die Betroffenen verfügen nun über korrekt funktionierende Blutstammzellen, die Lymphozyten zur Abwehr von Infektionen produzieren – und das vermutlich ein Leben lang.
Über die Preisvergabe entschied eine zehnköpfige internationale Jury, die sich aus renommierten Forscherinnen und Forschern auf den Gebieten der Genom-Editierung und Gentherapie sowie aus Vertreterinnen und Vertretern der Wissenschaftskommission der EKFS zusammensetzt.
Alessandro Aiuti will mit dem Preisgeld der EKFS die entwickelten Gentherapien weiter optimieren und die Heilungsmechanismen besser beschreiben. Eine weitere große Herausforderung sieht der Wissenschaftler darin, das erworbene Wissen über die erfolgreichen Gentherapien aus Mailand auf möglichst viele andere genetische Erkrankungen zu übertragen.
Alessandro Aiuti wurde 1966 in Rom geboren, wo er an der dortigen La Sapienza Universität Medizin studierte, gefolgt von einem Aufenthalt an der Harvard Medical School in Boston. Seit 1997 ist er am San Raffaele Telethon Institute for Gene Therapy in Mailand tätig, wo er inzwischen auch an der Vita Salute San Raffaele Universität als Professor lehrt. Aiuti ist Autor zahlreicher und vielbeachteter Publikationen. Im Laufe seiner Karriere erhielt er viele Preise von nationalen und internationalen Einrichtungen. Aiuti ist Mitglied im Vorstand der European Society of Gene and Cell Therapy und seit 2019 Mitglied des EMA Committee for Advanced Therapies. Er ist seit 1993 mit Laura verheiratet und hat zwei Töchter, Francesca und Camilla. Er reist gerne und geht ins Kino, und er treibt gerne Sport, insbesondere Segeln, Skifahren und Laufen (oft mit seinem Hund).
Über die Preisvergabe entschied eine zehnköpfige internationale Jury, die sich aus renommierten Forscherinnen und Forschern auf den Gebieten der Genom-Editierung und Gentherapie sowie aus Vertreterinnen und Vertretern der Wissenschaftskommission der EKFS zusammensetzt.
- Hildegard Büning, Hannover Medical School (Germany), Juryvorsitzende
- Michele Calos, Stanford University (USA)
- Nathalie Cartier, French Institute of Health and Medical Research, Paris (France)
- Stefan Endres, Ludwig-Maximilians-University Munich (Germany)
- Guangping Gao, University of Massachusetts (USA)
- Christine Klein, University of Lübeck (Germany)
- Luigi Naldini, San Raffaele Telethon Institute for Gene Therapy, Milano (Italy)
- Amit Nathwani, University College London (United Kingdom)
- Virginijus Siksnys, Vilnius University (Lithuania)
- Adrian Thrasher, University College London (United Kingdom)