Afghanistan: Millionen Menschen werden an Unterernährung leiden

Im Interview berichten unsere Projektpartner der World Vision Stiftung und der Georg Dechentreiter Wohlfahrts-Stiftung über die EKFS-Förderprojekte vor Ort.
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Die Else Kröner-Fresenius-Stiftung (EKFS) unterstützt derzeit zwei Förderprojekte in Afghanistan. Das Projekt von World Vision ist im westlichen afghanischen Hinterland angesiedelt. Ziel ist es, die Anzahl an qualifizierten Hebammen im Land zu erhöhen. Mit einer zweijährigen Ausbildung und zusätzlichen Weiterbildungsmöglichkeiten sollen weibliche Fachkräfte im Gesundheitssektor gestärkt werden. Ein weiteres Förderprojekt ist das der Georg Dechentreiter Wohlfahrt-Stiftung, die in Kabul das Irene Salimi Kinderhospital zur Verbesserung der medizinischen Versorgung von Kindern in Afghanistan gegründet hat. Im Interview geben die Projektleiter Georg Dechentreiter, Georg Dechentreiter Wohlfahrt-Stiftung und Georg Kessler, World Vision Stiftung, einen Einblick in die aktuelle Lage in Afghanistan.

Lieber Herr Dechentreiter, lieber Herr Kessler können Sie uns die aktuelle Situation in Afghanistan beschreiben?

Georg Dechentreiter, Georg Dechentreiter Wohlfahrt-Stiftung: Es ist Winter in Afghanistan. Die hohen Pässe sind zugeschneit. Viele Provinzen sind mit ihren Orten von den Hauptverkehrsstraßen abgeschnitten. Sogar der Salang-Tunnel auf 3.878 Meter Höhe, der den Norden durch das Hindukush-Gebirge mit der Hauptstadt verbindet, ist zugeschneit. Es kommen momentan saisonbedingt wenig Patientinnen und Patienten in die afghanische Hauptstadt Kabul.
Wirtschaftlich gesehen ist für viele Familien die Lage äußerst prekär. Es gibt keine Arbeit und keine Anstellung. Selbst die Beamten haben mehrere Monate Lohnzahlungen ausstehen. Jede Ausgabe, die nicht akut lebensnotwendig ist, wird zurückgestellt.
Hinzukommt, dass nun die Religionspolizei langsam wieder die Zügel anzieht. Das Privatauto ist nicht mehr privat. Es ist öffentlicher Raum: Radio- und Musikhören verboten. Frauen müssen auch im Auto Burka tragen, um nur ein Beispiel zu nennen.

Georg Kessler, World Vision Stiftung: Die Lage in Afghanistan ist sehr kritisch, sie entwickelt sich zur schlimmsten humanitären Krise weltweit. Asuntha Charles, unsere Landesdirektorin von World Vision Afghanistan, bestätigt nach Besuchen in mehreren Provinzen, dass sich die humanitäre Lage im Land gerade bedrohlich verschlechtert, und zwar sehr schnell. Afghanistan ist für Mütter und Kinder einer der gefährlichsten Orte der Welt. Schon bei der Geburt ist das Risiko zu sterben hoch, weil es nicht überall professionelle medizinische Hilfe gibt. Aktuell spitzen sich die Probleme dramatisch zu, weil die Wirtschaft zusammengebrochen ist und Millionen Menschen hungern.

24,4 Millionen Menschen – mehr als die Hälfte der Bevölkerung – werden nach UN-Angaben in diesem Jahr humanitäre Hilfe benötigen, rund 30 Prozent mehr als im vergangenen Jahr. In allen 34 Provinzen des Landes ist die Ernährungslage kritisch, in einigen Provinzen bereits katastrophal. Hierzu beigetragen hat neben den lang andauernden Konflikten und dem Wegfall internationaler Hilfen seit der Machtübernahme der Taliban auch die schlimmste Dürre der letzten 27 Jahre.
Wenn die derzeitige Situation anhält, werden laut UN-OCHA 1,1 Millionen akut unterernährte Kinder unter fünf Jahren keinen Zugang zu Behandlungsdiensten haben und bis zu 131.000 Kinder könnten im Jahr 2022 sterben.

Abgesehen von Finanzzusagen benötigen vor Ort arbeitende Organisationen wie World Vision allerdings auch internationale diplomatische Unterstützung, um Hindernisse für Hilfen zu beseitigen. Unsere Arbeit wird zwar von Regierungen gefördert, aber gleichzeitig durch die Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung, insbesondere durch Sanktionen, und damit auch den Zugang zu Finanzmitteln, stark eingeschränkt. Die zugesagten Finanzmittel müssen vor Ort zur Verfügung stehen.

Herr Dechentreiter, wie sieht die Arbeit im Kinderhospital vor Ort derzeit aus?

Georg Dechentreiter, Georg Dechentreiter Wohlfahrt-Stiftung: Im Irene Salimi Kinderhospital gehen wir ganz normal unserer Arbeit nach. Auch unsere weiblichen Mitarbeiterinnen kommen täglich ungehindert zur Arbeit. Unsere Chirurgen und Orthopäden in der Facharztausbildung besuchen in der Winterzeit andere Hospitäler, um ihre Curricula zu absolvieren. Dabei müssen sie je nach Jahrgang andere Fachdisziplinen besuchen und kennenlernen. Für Kinderchirurgen geht die Fachausbildung fünf Jahre, für Kinderorthopäden vier Jahre.
Gerade sind wir dabei, eine Unterernährten-Station neu einzurichten und dafür die Genehmigung des afghanischen Ministry of Public Health zu erhalten. Wir hoffen, Ende Januar bereits die ersten unterernährten Kinder aufnehmen zu können.
Daneben planen wir eine kleine Augenklinik, die bis Mitte des Jahres ihren Betrieb aufnehmen soll. Und natürlich operieren wir täglich Kinder!

Herr Kessler, wie gestaltet sich Ihre Projektarbeit derzeit in Afghanistan? Mit welchen Einschränkungen sind Sie konfrontiert?

Georg Kessler, World Vision Stiftung: Wir können auch weiterhin Projekte durchführen. Da der Gesundheitssektor viel Bedarf hat, stellt das geförderte Projekt der Else Kröner-Fresenius-Stiftung eine große Hilfe dar. Einschränkungen gibt es durch die strikte Geschlechtertrennung, die sich vor allem in den Kursen und beim Reisen auswirkt. So wird weibliches und männliches Gesundheitspersonal zum Beispiel in Anästhesie-Kursen mit Trennwand unterrichtet. Frauen, die nicht aus Herat City sind, dürfen nur mit männlicher Begleitung anreisen. Wir sind natürlich froh, dass unsere weiblichen Mitarbeiterinnen ihrer Arbeit nachgehen können und wir die Projekte weiterhin umsetzen können.

Mit welchen Einschränkungen sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Kinderhospital konfrontiert, Herr Dechentreiter?

Georg Dechentreiter, Georg Dechentreiter Wohlfahrt-Stiftung: Im Kinderhospital haben wir noch keine großen Einschränkungen hinnehmen müssen. Noch wurden Wünsche höflich und als Bitte oder Vorschlag vorgetragen. Aber das kann sich auch ändern. Was natürlich draußen im normalen Leben als Regel gilt, gilt auch bei uns im Kinderhospital.

Können die von Ihnen ausgebildeten Hebammen ihre Arbeit vor Ort ausführen, Herr Kessler?

Georg Kessler, World Vision Stiftung: Die Hebammen sind noch in Ausbildung, ab April dann aber voraussichtlich in der Praxis unter Supervision. Durch die politische Situation musste das Projekt zwei Monate ruhen, konnte dann aber fortgesetzt werden. Es gibt für die Hebammen ansonsten keine Einschränkungen oder Berufsverbote.

Vielen Dank für Ihre Zeit!